Was bedeutet "neutral"?
Es wird manche überraschen, aber das steht so nirgends. Wir bekommen immer wieder Publikumspost, in der uns eine Hörerin oder ein Zuschauer vorwirft, wir würden unsere Neutralitätspflicht verletzen – wenn etwa ein journalistischer Beitrag über gesellschaftlich strittiges Thema einen bestimmten Tenor hat oder zu einem Ergebnis kommt, das manchen nicht gefällt. Dann heißt es, wir seien nicht "neutral".
Liest man sich aber die juristischen Grundlagen für die Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch, dann taucht das Wort "neutral" gar nicht auf. Aus guten Gründen, weil das Wort "neutral" auch ein wenig nebulös ist. Die "Neutralität" der Schweiz meint etwas anderes als die "Neutralität" des Schiedsrichters.
"Neutral" kommt ja aus dem Lateinischen "Ne utrum", auf deutsch: "keins von beidem". Aber was bedeutet das konkret: Versteht man unter Neutralität, dass man keine Position bezieht? Oder noch schärfer, dass man sich aus Auseinandersetzungen komplett heraushält? Oder bedeutet es nur, dass man keine Partei ergreift?
Darüber kann man lang philosophieren, muss man aber in dem Fall gar nicht, weil die Rechtsgrundlagen, die den
Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks definieren, genauere Begriffe verwenden als "Neutralität" .
Kurz, welche sind das? Das ist zum einen der
Medienstaatsvertrag, der zwischen allen Bundesländern geschlossen wurde. Daneben gibt es
Staatsverträge bzw. Gesetze für die einzelnen Rundfunkanstalten. Zum Beispiel gibt es für den Südwestrundfunk, den SWR, einen Staatsvertrag zwischen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.
Wie muss der ÖRR berichten?
Da steht nichts von Neutralität, aber dort stehen andere Begriffe, die präziser sind. Beispielsweise steht im
Medienstaatsvertrag, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Gewährleistung einer
"unabhängigen, sachlichen, wahrheitsgemäßen und umfassenden Information und Berichterstattung" verpflichtet sind. Sie sollen die
"Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit" achten. Und "in ihren Angeboten eine
möglichst breite Themen- und Meinungsvielfalt ausgewogen darstellen."
Staatsvertrag des SWR führt die Pflichten weiter aus
Ähnliche Begriffe finden sich im
Staatsvertrag des SWR. Dort heißt es, Berichterstattung und Informationssendungen sind "
gewissenhaft zu recherchieren und müssen
wahrheitsgetreu und
sachlich sein." Und es heißt: "Die Redakteurinnen und Redakteure sind bei der Auswahl und Sendung der Nachrichten zur
Objektivität und Überparteilichkeit verpflichtet."
Pflicht zur Unabhängigkeit und Überparteilichkeit der Berichterstattung
Und diese Begriffe sagen ja eigentlich viel klarer, worum es geht. Wenn wir es aufdröseln, fordert der Auftrag somit also zunächst
Unabhängigkeit und
Überparteilichkeit. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll nicht abhängig sein vom Staat, von einer Regierung, von Parteien oder anderer Interessengruppen. Niemand soll durch großzügige Spenden oder umgekehrt politischer Einflussnahme die Berichterstattung beeinflussen dürfen. Einfacher gesagt: Der Auftrag fordert nicht Neutralität, sondern zunächst vor allem Unabhängigkeit der Berichterstattung.
Das bedeutet aber nicht, dass die, die dort arbeiten, einfach machen können, was sie wollen und ihre eigenen Interessen propagieren, denn – und das war ja das andere Begriffscluster – die Berichte sollen
wahrheitsgetreu,
sachlich und
objektiv sein.
Wenn man also schon mit "neutral" kommt, entspricht die gebotene Neutralität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eher der der Schiedsrichters - unabhängig, unparteiisch, aber gleichzeitig beauftragt, zu "sagen, wie es wirklich ist".
Schiedsrichter werden oft auch als die "Unparteiischen" bezeichnet - so gut wie nie aber als "die Neutralen". Aus guten Gründen - den gleichen Gründen, weshalb der Begriff auch im Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk missverständlich sein könnte.
Warum Schiedsrichter nur bedingt "neutral" sind
Neutralität könnte ja so verstanden werden, dass die Berichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks keine Position beziehen und zu keinem Ergebnis kommen dürften, das etwa einer Partei besser gefällt als einer anderen. Das dürfen sie aber sehr wohl, vorausgesetzt, die Berichte sind wahrheitsgetreu und objektiv. Wenn der ehemalige US-Präsident Donald Trump behauptet, er habe die Wahl 2020 gewonnen, dann darf ich als öffentlich-rechtlicher Journalist sagen, dass er dafür noch keine Belege vorgelegt hat. Ich berichte dann zwar nicht "neutral" in dem Sinn, denn ich nehme ja sehr wohl eine inhaltliche Bewertung von Trumps Behauptung vor. Das tue ich aber unabhängig und wahrheitsgetreu. Und das ist auch in Ordnung.
Wann ist Berichterstattung "ausgewogen"?
Oder: Wenn Politikerin X behauptet, es gibt keinen menschengemachten Klimawandel und Politiker Y behauptet das Gegenteil, wenn sich die überwältigende Mehrheit in der Wissenschaft einig ist, dann ist der Auftrag, dass wir uns an der Wissenschaft orientieren und nicht aus falsch verstandener "Neutralität" beide Positionen als gleichberechtigt darstellen. Denn das wäre
false balance – eben: falsche Ausgewogenheit.
Da bin ich beim nächsten Schlüsselbegriff.
Ausgewogenheit steht tatsächlich auch im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und wenn da sonst nichts weiter stehen würde, könnte man "Ausgewogenheit" so verstehen, als müssten alle Beiträge immer alle erdenklichen Meinungen wiedergeben. Dass das aber nicht gemeint ist, wird deutlich, wenn man sich die Passagen genauer anschaut. Im Medienstaatsvertrag heißt es, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollen in ihren Angeboten eine möglichst breite Themen- und Meinungsvielfalt ausgewogen darstellen. Hier bezieht sich die Ausgewogenheit erstmal auf die
Themenauswahl. Es gibt viele Themen, die interessant und wichtig sind, die soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausgewogen abbilden. Und es gibt zu diesen Themen jeweils verschiedene
Meinungen, die ebenfalls ausgewogen abgebildet werden müssen. Was heißt das nun wieder?
Ausgewogenheit im Gesamtangebot, nicht in jedem einzelnen Beitrag
Im Staatsvertrag für den Südwestrundfunk heißt es: "In allen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse sind die verschiedenen Auffassungen
im Gesamtangebot ausgewogen und angemessen zu berücksichtigen." Wichtig ist dabei das Wort Gesamtangebot: Das heißt, nicht jeder einzelne Beitrag muss alle Auffassungen zu Wort kommen lassen, sondern die Forderung richtet sich an die Summe der Beiträge. Deshalb darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch sehr pointierte Kommentare senden, also ausgewiesene Meinungsbeiträge, die für sich genommen vielleicht als einseitig erscheinen können – entscheidend ist aber eben das Gesamtangebot.
Und es steht ja nicht nur "ausgewogen" da, sondern auch
"angemessen". Mit anderen Worten: Nicht jede Auffassung muss im gleichen Maße abgebildet werden. Die Einzelmeinung eines politischen Hinterbänklers verdient deshalb nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die einer Ministerin oder eines Fraktionschefs der Opposition, die ja als Teil einer Regierung sprechen oder eben die Haltung ihrer Partei wiedergeben. Und genauso ist es "angemessen", dass Positionen, die sich auf Fakten und auf Wissenschaft stützen, im Programm berücksichtigt werden und eine unbelegte Verschwörungserzählung gar nicht. Das mag, je nach Sichtweise, nicht "neutral" sein, aber es ist
wahrheitsgetreu, sachlich, objektiv, und es ist trotzdem
ausgewogen und angemessen.